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Grabesstille


Dieses Feld aus riesigen, dunkelgrauen Blöcken ist wesentlich größer, als erwartet. Plötzlich liegt es vor mir, türmt sich auf, bildet Berge und Täler, während das umliegende Stadtbild vor ihm zu weichen scheint. Auf den ersten Blick einer strikten Ordnung folgend, in stiller Strenge aufgestellt, machen sich, je länger ich den Blick schweifen lasse, die vielen Unebenheiten dieser zunächst unüberschaubaren Masse bemerkbar. Meine Augen folgen den Flächen und Kanten und versuchen, das ganze Bild zu erfassen.

So anonym das Kollektiv auch erscheinen mag, so gesichtslos die einfarbigen, kantigen Blöcke auch sein mögen, so weist das düstere Meer aus Beton, das sich vor mir erstreckt, in seinen stehenden Wellen doch unzählbare schiefe und schräge Einzelheiten auf, die die Individualität, die hier versteckt ist, verraten.

Nachdem ich das riesige Monument, seine chaotische Ordnung erkannt und verstanden habe, betrete ich mit ruhigen Schritten den Friedhof.

Je weiter mich meine Schritte zwischen die Grabmähler führen, die in einem akkuraten Raster angeordnet sind, desto kleiner fühle ich mich. Machtlos wage ich mich in das bedrohliche Labyrinth aus immer höher aufragenden, dunklen Klötzen. Die Stadtgeräusche verschwinden. Lassen mich mit meinen Gedanken allein. Ich weiß nicht, ob es an den riesigen Grabmählern liegt, dass der Lärm nicht mehr zu mir durchdringt oder ob ich ihn nur ausblende. Der Friedhof umgibt mich mit Ruhe und erfüllt mich mit - ... nein, nicht mit Frieden. Zu beklemmend ist dieser steinerne Irrgarten obwohl jeder Gang heraus führt.

Ausweglosigkeit.

Einsamkeit.

Das hier ist kein Ort, um sich fotografieren zu lassen, während man auf oder zwischen den Betonblöcken posiert. Hier geht es nicht darum, denjenigen, die diesen Ort besuchen, eine ausgefallene Location zu bieten, damit sie ihre kopflose Selbstdarstellung pflegen können. Diesen Ort versteht man nur, wenn man ihn auf sich wirken lässt und die Gefühle zulässt, die er mit seine Symbolkraft aufkommen lässt. Wenn man nicht versucht, die eigenen Gedanken mit lauten Witzen und achtlosen Bemerkungen zu übertönen.

Am Rand des Mahnmals, wo die Betonklötze stufenweise kleiner werden und mit jedem Schritt ein stück tiefer im Boden zu versinken scheinen, sitzen Leute darauf, genießen die Sonne oder machen Fotos.

Als ich mich noch einmal umdrehe, fallen mir auch einige Oberflächen auf, die mit dem Boden verschmolzen sind. Als vorbei schlendernde Fußgänger achtlos darüber hinweg gehen, kommt es mir plötzlich vor als würden sie ihre Schritte auf reale Grabsteine setzen, ohne es auch nur zu bemerken.

Ich werde wütend als mir bewusst wird, mit welcher Ignoranz und Achtlosigkeit, die meisten durch das Leben - und über Leichen - gehen.

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